Zur ärztlichen Aufklärungspflicht bei einem Eingriff hinsichtlich des Risikos einer dauerhaften Lähmung

BGH, Urteil vom 11.10.2016 – VI ZR 462/15

Über das einem ärztlichen Eingriff spezifisch anhaftende Risiko der Lähmung des Beines oder Fußes, das bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet, ist der Patient aufzuklären. Ohne Vorliegen besonderer Umstände gibt es grundsätzlich keinen Grund für die Annahme, der im Rahmen der Aufklärung verwendete Begriff „Lähmung“ impliziere nicht die Gefahr einer dauerhaften Lähmung, sondern sei einschränkend dahin zu verstehen, dass er nur vorübergehende Lähmungszustände erfasse. Damit, dass der Patient einer solchen Fehlvorstellung unterliegt, muss – bei Fehlen entsprechender Anhaltspunkte – der aufklärende Arzt nicht rechnen.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 23. Juli 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

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Der Kläger nimmt die Beklagten wegen behaupteter ärztlicher Behandlungs- und Aufklärungsfehler auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.

2

Dem Kläger, Sportlehrer und Handballtrainer, wurde wegen einer Hüftkopfnekrose rechts von dem Beklagten zu 2 im Hause der Beklagten zu 1 am 1. Juni 2010 eine Hüftgelenktotalendoprothese implantiert. Infolge der Operation leidet der Kläger an einer Plexusläsion, einer Fußheber- einschließlich einer Zehenheberparese und einer Fußsenkerparese. Ihm ist es seither nicht mehr möglich, normal zu stehen und zu gehen; auch Sport kann er nicht mehr treiben.

3

Das Aufklärungsgespräch am Tag vor der Operation hatte die Assistenzärztin Dr. Sch. durchgeführt. An diesem Tag unterzeichnete der Kläger einen Aufklärungsbogen, in welchem auf das Risiko von „Nervenverletzungen“ hingewiesen wurde, die „dauerhafte Störungen wie z.B. eine Teillähmung des Beines verursachen können.“

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Der Kläger behauptet, die Nervenverletzung sei durch Behandlungsfehler während und unmittelbar nach der Operation verursacht worden. Zudem sei er vor der Operation über das Risiko einer dauerhaften Lähmung nicht aufgeklärt worden.

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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil dahingehend abgeändert, dass es die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 40.000 EUR verurteilt und die Ersatzpflicht der Beklagten für weitere immaterielle und materielle Schäden festgestellt hat. Mit der vom Senat zugelassenen Revision beantragen die Beklagten die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

I.

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Das Berufungsgericht hat die Beklagten wegen Verletzung der Aufklärungspflicht durch die Assistenzärztin Dr. Sch. zum Ersatz der immateriellen und materiellen Schäden für verpflichtet erachtet. Aus der Rechtsprechung insbesondere des Bundesgerichtshofs ergebe sich, dass der Kläger auf das Risiko einer dauerhaften Lähmung habe hingewiesen werden müssen. Den diesbezüglichen Beweis hätten die Beklagten nicht geführt. Die als Zeugin vernommene Assistenzärztin Dr. Sch. habe lediglich ausgesagt, dass es zum fraglichen Zeitpunkt eigentlich – so wie heute – zum Standard eines Aufklärungsgesprächs gehört habe, auf das Risiko einer Lähmung als schlimmste Folge einer Nervenverletzung hinzuweisen. Hingegen ergebe sich aus ihrer Aussage nicht, dass sie den Kläger über das Risiko einer dauerhaften Nervenschädigung bzw. dauerhaften Lähmung aufgeklärt habe; vielmehr habe sie ausdrücklich bekundet, dass ein solcher Hinweis ohne entsprechende Nachfrage des Patienten nicht automatisch Inhalt der Aufklärung sei. Es reiche nicht aus, dass in dem Aufklärungsbogen der Begriff der Lähmung, der auch die dauerhafte Lähmung erfasse, enthalten gewesen sei. Denn der Kläger habe in seiner persönlichen Anhörung erklärt, warum er den Inhalt des Aufklärungsbogens nicht richtig verstanden habe. Danach habe er den Bogen nur flüchtig gelesen. Er habe nicht nachgefragt, weil er sehr aufgeregt gewesen sei und nur die Hälfte von dem mitbekommen, was die Ärztin gesagt habe. Bei der Nennung des Begriffs Lähmung habe er sich nicht automatisch vorgestellt, dass das Risiko einer dauernden Lähmung bestehen könne. In dem Aufklärungsgespräch sei er auf die Gefahr einer dauerhaften Lähmung nicht hingewiesen worden. Unter diesen Umständen reiche die Indizwirkung der schriftlichen Einwilligungserklärung auf dem Aufklärungsbogen nicht aus, den Beweis einer Aufklärung über das Risiko einer dauerhaften Lähmung als geführt anzusehen. Der Kläger habe weiter glaubhaft bekundet, dass er sich die „Angelegenheit“ sicher nochmals überlegt hätte, wenn er darüber aufgeklärt worden wäre, dass als Folge einer möglichen Nervenverletzung nicht lediglich eine Lähmung, sondern auch eine dauerhafte Lähmung verbleiben könne. Daraus ergebe sich, dass sich der Kläger bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte. Mangels wirksamer Einwilligung sei der Eingriff daher rechtswidrig gewesen, so dass die Beklagten für die dadurch entstandenen Gesundheitsschäden einzustehen hätten.

II.

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Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit Erfolg wendet sich die Revision gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger sei nicht ausreichend aufgeklärt worden.

8

1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass ein Arzt grundsätzlich für alle den Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteiligen Folgen haftet, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist. Richtig ist auch, dass eine wirksame Einwilligung des Patienten dessen ordnungsgemäße Aufklärung voraussetzt (vgl. Senatsurteil vom 30. September 2014 – VI ZR 443/13 , VersR 2015, 196 Rn. 6; vom 7. November 2006 – VI ZR 206/05 , BGHZ 169, 364 Rn. 7 ) und dass der aufklärungspflichtige Arzt nachzuweisen hat, dass er die von ihm geschuldete Aufklärung erbracht hat ( Senatsurteil vom 28. Januar 2014 – VI ZR 143/13 , VersR 2014, 588 Rn. 11). Auch trifft es zu, dass insoweit in erster Linie der Inhalt des Aufklärungsgesprächs maßgeblich ist, weil es jedenfalls bei Eingriffen der vorliegenden Art eines solchen bedarf und schriftliche Merkblätter nur ergänzend verwendet werden dürfen (vgl. Senatsurteil vom 25. März 2003 – VI ZR 131/02 , NJW 2003, 2012, 2013 mwN und nunmehr – zur Notwendigkeit des Gesprächs – § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB ). Das von dem Arzt und dem Patienten unterzeichnete Formular, mit dem der Patient sein Einverständnis zu dem ärztlichen Eingriff gegeben hat, ist lediglich ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgesprächs ( Senatsurteil vom 28. Januar 2014 – VI ZR 143/13 , VersR 2014, 588 Rn. 13).

9

2. Rechtsfehlerhaft ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, dass bei Bestehen des Risikos einer nicht nur vorübergehenden Lähmung der vorliegenden Art (zur Aufklärung über das Risiko einer Querschnittslähmung vgl. allerdings Senatsurteil vom 4. April 1995 – VI ZR 95/94 , VersR 1995, 1055, 1056) eine Aufklärung über das Risiko einer „Lähmung“ nicht genüge, sondern über das Risiko einer „dauerhaften Lähmung“ aufgeklärt werden müsse.

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a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats muss der Patient nur „im Großen und Ganzen“ über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden. Nicht erforderlich ist die exakte medizinische Beschreibung der in Betracht kommenden Risiken. Dem Patienten muss aber eine allgemeine Vorstellung von dem Ausmaß der mit dem Eingriff verbundenen Gefahren vermittelt werden, ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern (vgl. Senatsurteile vom 6. Juli 2010 – VI ZR 198/09 , VersR 2010, 1220 Rn. 11; vom 14. März 2006 – VI ZR 279/04 , BGHZ 166, 336 Rn. 13 ; vom 7. April 1992 – VI ZR 192/91 , VersR 1992, 960, 961; vom 7. Februar 1984 – VI ZR 174/82 , BGHZ 90, 103, 106, 108 ). Dabei ist über schwerwiegende Risiken, die mit einer Operation verbunden sind, grundsätzlich auch dann aufzuklären, wenn sie sich nur selten verwirklichen. Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet ( Senatsurteile vom 30. September 2014 – VI ZR 443/13 , VersR 2015, 196 Rn. 6; vom 15. Februar 2000 – VI ZR 48/99 , BGHZ 144, 1, 5 f. ; vom 21. November 1995 – VI ZR 341/94 , VersR 1996, 330, 331; vom 7. Februar 1984 – VI ZR 174/82 , BGHZ 90, 103, 106 ). Die Aufklärung muss zudem für den Patienten sprachlich und inhaltlich verständlich sein (vgl. § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB ), wobei es auf die individuelle Verständnismöglichkeit und damit auch auf den Zustand des Patienten ankommt.

11

b) Demnach ist auch in für den Patienten verständlicher Weise über das einem Eingriff spezifisch anhaftende Risiko einer Lähmung aufzuklären. Der Senat hat in Bezug auf den Inhalt einer solchen Aufklärung bereits entschieden, dass beispielsweise bei Schluckimpfungen gegen Kinderlähmung der Hinweis auf das Risiko von „Lähmungen“ auch das Risiko der Kinderlähmung sowie eine Lähmung aufgrund des Guillain-Barré-Syndroms erfasst (Senatsurteil vom vom 15. Februar 2000 – VI ZR 48/99 , BGHZ 144, 1, 7 ). Hingegen genügt jedenfalls im Falle einer fremdnützigen Blutspende der bloße Hinweis auf „Schädigungen von Nerven“ – anders als ein Hinweis auf eine „Lähmung“ als mögliche Folge einer Nervschädigung – wegen des breiten Spektrums solcher Schädigungen nicht ( Senatsurteil vom 14. März 2006 – VI ZR 279/04 , BGHZ 166, 336 Rn. 15 ). In seinem Urteil vom 29. September 1998 – VI ZR 268/97 (VersR 1999, 190, 191) hat der Senat ferner entschieden, dass der in einer schriftlichen Einwilligungserklärung zur operativen Beseitigung eines Lipoms am Oberschenkel als eingriffsspezifisches Risiko erwähnte Begriff „Lähmung“ auch die dauernde Lähmung umfasst. Der Einwilligungserklärung wurde im dortigen Fall nur deshalb die Indizwirkung für eine ordnungsgemäße Aufklärung abgesprochen, weil die damalige Patientin substantiiert vorgetragen hatte, auf ihre Nachfrage, was „Lähmung“ bedeute, sei ihr erklärt worden, dass es zu einer durch eine Einklemmung des Nervs bedingten kurzzeitigen Lähmung kommen könne.

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Ohne Vorliegen derartiger besonderer Umstände gibt es hingegen grundsätzlich keinen Grund für die Annahme, der Begriff „Lähmung“ impliziere in Fällen wie dem vorliegenden nicht die Gefahr einer dauerhaften Lähmung, sondern sei einschränkend dahin zu verstehen, dass er nur vorübergehende Lähmungszustände erfasse. Damit, dass der Patient einer solchen Fehlvorstellung unterliegt, muss – bei Fehlen entsprechender Anhaltspunkte – der aufklärende Arzt nicht rechnen. Will der Patient Einzelheiten über Art und Größe des Lähmungsrisikos wissen, kann er diese erfragen (vgl. Senatsurteil vom 7. Februar 1984 – VI ZR 174/82 , BGHZ 90, 103, 109 ).

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3. Nach diesen Grundsätzen hatten die Beklagten vorliegend lediglich nachzuweisen, dass der Kläger vor der Operation über das Risiko einer „Lähmung“ aufgeklärt worden war; des Nachweises einer Aufklärung über das Risiko einer „dauerhaften Lähmung“ bedurfte es hingegen nicht. Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Angaben des Klägers in seiner persönlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht, er habe sich unter dem Begriff „Lähmung“ nicht automatisch vorgestellt, dass das Risiko einer dauernden Lähmung bestehen könne, und er habe nicht nachgefragt, weil er aufgeregt gewesen sei und auch nur die Hälfte von dem mitbekommen habe, was die Ärztin geäußert habe. Anhaltspunkte dafür, dass der das Aufklärungsgespräch führenden Assistenzärztin Dr. Sch. diesbezügliche Fehlvorstellungen, Unklarheiten oder Aufmerksamkeitsdefizite auf Seiten des Klägers erkennbar waren oder hätten erkennbar sein müssen, sind weder festgestellt noch ersichtlich.

14

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurde der Kläger über das dem Eingriff anhaftende Risiko einer „Lähmung“ aufgeklärt. An der Richtigkeit der Aussage der Zeugin Dr. Sch., dass die Aufklärung über das Risiko einer Lähmung eigentlich schon im Jahr 2010 zum Standard gehört habe, hat das Berufungsgericht keinen Zweifel geäußert. Es hat sich bei seiner Beurteilung auf die von ihm für glaubhaft erachteten Angaben des Klägers gestützt, er habe sich bei der Nennung des Begriffs einer Lähmung nicht automatisch vorgestellt, dass das Risiko einer dauernden Lähmung bestehen könne, und er hätte sich die Angelegenheit nochmals überlegt, wenn er darüber aufgeklärt worden wäre, dass als Folge einer möglichen Nervenverletzung nicht lediglich eine Lähmung, sondern auch eine dauernde Lähmung verbleiben könne.

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4. Im weiteren Verfahren wird sich das Berufungsgericht mit den Berufungsangriffen des Klägers gegen die Verneinung eines Behandlungsfehlers durch das Landgericht zu befassen haben.

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